Naturparadies und Betonoase am ehemaligen Nordbahnhof
In Wien entsteht das Bauprojekt “Freie Mitte”. Durchdesignte Hochhäuser werden neben wuchernder Wildnis bestehen. Es leben dort gefährdete Tierarten deren Lebensraum erhalten bleiben soll – gleichzeitig wird gebaut. Kann das funktionieren? – Und wenn ja, wie?
An einem Sonntagmorgen bei –4 Grad machen wir uns dick eingepackt auf den Weg ins Nordbahnviertel. Die neu errichtete Siedlung fühlt sich wie eine kleine Stadt an und unsere „Gstettn“ ist gar nicht so einfach zu finden. Mit einem kleinen Blick auf Google Maps entdecken wir schließlich einen kleinen Weg, der in eine regelrechte Winteroase führt.
Rund 10.000 Wohnungen sowie 20.000 Arbeitsplätze werden laut Stadt Wien am ehemaligen Nordbahnhof im zweiten Wiener Gemeindebezirk geschaffen. So siedelt sich etwa die neue Zentrale der Bank Austria, ein Hotel und das Haus der Wiener Wirtschaft an. Die Entwicklung des neuen Grätzls soll bis 2026 fertiggestellt werden. Inmitten des Großprojekts liegt eine der vielen sogenannten „Wiener Gstettn”. Die 10 Hektar große Wildnis soll als Teilprojekt “Freie Mitte“ erhalten bleiben.
Die Wiener Umweltanwältin Iris Tichelmann, BSc MSc, ist überzeugt, dass das gelingen wird. Für die Tiere, die in der „Freien Mitte“ leben, sollen Ersatzhabitate und neue Nistplätze errichtet werden:
„Die neuen Gebäude wirken sich sogar positiv auf geschützte Arten aus, da hier z.B. Fledermausquartiere eingebaut werden. Es wird also neuer Platz geschaffen, den die Tiere nützen können. Solche Projekte werden nach dem Naturschutzgesetz nur bewilligt, wenn kein dauerhafter negativer Einfluss entsteht.“
Fledermäuse bekommen wir bei unserem Spaziergang in der „Freien Mitte“ nicht zu sehen. Die geschützten Tiere halten Winterschlaf. Auf Holzstegen überqueren wir die zugefrorenen Biotope, eine Rast auf den vielen Sitzmöglichkeiten heben wir uns lieber für wärmere Tage auf. An den zahlreichen Hinweistafeln informieren wir uns über die seltene violette Sommerwurz, die hier noch vor 3 Monaten geblüht hat. Es gibt einen Fahrradspielplatz, an welchem Kinder das Radfahren üben können sowie einen Wasserspielplatz, der im Sommer zum Plantschen einlädt. Die im Lauf der Zeit wenig abgenützte und gut erhaltene Eisenbahnbrücke enthält ein Stück Geschichte des ehemaligen Bahnhofs.
Es ist eine kleine Idylle, welche aber leider durch die umliegenden Baustellen, ein bisschen an Charme und Wohlfühlfaktor verliert. Kräne, Bauschutt und Zäune hemmen unser Freiheitsgefühl, das sich in so mancher Wildnis ausbreiten kann.
Die Stadtplanung Wien beschreibt die Entwicklung der „Freien Mitte“ als einen Natur- und Erholungsraum der besonderen Art. Die Erhaltung sowie Schaffung von Lebensraum für Tier- und Pflanzenarten wird versprochen, ist dies doch ein wichtiger Schritt für die Entwicklung der Wiener Stadtgebiete. Wir alle merken schließlich, wie sich Wien immer mehr zur Betonoase entwickelt und man im Sommer kaum mehr der Hitze der Stadt entfliehen kann.
Die „Wiener Gstettn“, also unbebaute, verwilderte Flächen, die nicht oder nur selten gepflegt werden, tragen maßgeblich zur Erhaltung der Biodiversität bei und sind ein wichtiger Lebensraum für Pflanzen und Tiere. So leben in der Gstettn “Freie Mitte” Wechselkröten, Zauneidechsen, Spechte, Fledermäuse, Neuntöter, Schmetterlinge, Segelfalter, Bienen, Feldhasen und die Große Wiesenameise.
Verschiedene ExpterInnen werden in das, beim Vorhandensein geschützter Arten, notwendige Naturschutzverfahren eingebunden:
„Es wird genau berücksichtigt, welche Arten vorkommen, in welcher Anzahl und wie man es schafft, dass der negative Einfluss möglichst reduziert wird. Es gibt Auflagen im Bescheid, welche einzuhalten sind. Es werden verschiedene ExpertInnen, auch wir als Wiener Umweltanwaltschaft, im Verfahren involviert.“
Ob dieser wichtige Lebensraum der Tier- und Pflanzenwelt durch die umliegende Bebauung von 5.0000 der 10.000 geplanten Wohnungen bedroht wird, beantwortet die Wiener Umweltanwältin wie folgt:
„Die baulichen Tätigkeiten haben insofern Einfluss, als dadurch Lebensraum verschwindet. Natürlich können Hitzeinseln entstehen, aber die „Freie Mitte“ ist eine große Fläche und die geschützten Arten und die Habitate werden so angelegt, dass sich, wenn die Auflagen erfüllt sind, die Gebäude nicht mehr auswirken. Das Projekt soll so gestaltet sein, dass die geschützten Arten dauerhaft dort leben können. Man kann aber nie vorhersagen, wie die Menschen sich verhalten.“
Wir sind schon halb erfroren, als plötzlich zwei PassantInnen unseren Weg kreuzen. Neugierig begleiten wir Carmen und Tobias ein Stück durch das Areal und befragen sie bei der Gelegenheit gleich nach Ihrer Meinung.
Die Wiener Umweltanwältin sieht die „Freie Mitte“ jedenfalls als Vorzeigeprojekt und ersucht auch die Öffentlichkeit, bei der Erhaltung mitzuwirken:
„Es ist ein großes Problem, dass sich Menschen im öffentlichen Raum oft nicht sehr sozial verhalten, von Müll über Vandalismus kann alles passieren. Es gibt auch immer Schwierigkeiten mit Hunden, die nicht an der Leine geführt werden und Freigänger Katzen, die sich geschützte Arten holen. Eine Konsequenz wäre nur, dass man alle geschützten Arten einzäunt und die Menschen aussperrt, was wir aber nicht wollen. Dann wäre das Miteinander zwischen Menschen, Pflanzen und Natur in der Stadt nicht mehr möglich.“
Wer sich aktiv an der „Verwilderung“ der Stadt beteiligen möchte, dem kann Frau Tichelmann einen Tipp geben – Denn auch in den Wiener Kleingärten sieht sie großes Potenzial:
„Es ist ein großes Anliegen, dass nicht jede:r einen Rollrasen hat, weil auch hier viele Tiere und Pflanzen einen Lebensraum finden könnten. Wir leisten viel Öffentlichkeitsarbeit und bemühen uns mehr Bewusstsein zu schaffen.“
Nach diesem tollen Ausflug und der vielen frischen Luft sind wir jedenfalls motiviert auch die anderen vielfältigen „Gstettn“ in Wien zu erkunden. Wer es uns gleich tun möchte nutzt am besten den „Gstettnführer“ der Wiener Umweltanwaltschaft, abrufbar unter https://wua-wien.at/naturschutz-und-stadtoekologie/165-weiterfhrende-informationen-zum-thema17/1730-gstettnfuehrer-neuauflage-2020.